Unser Wort „Wissen“ ist sprachgeschichtlich mit dem Sehsinn verbunden: Wer etwas gesehen hat, kann es bezeugen, also wissen. Instrumente des Wissens wie Archive, Sammlungen, Listen und Enzyklopädien ordnen das Unübersichtliche. Diagramme, Karten und Atlanten schaffen Überblick. Modelle und Schaubilder geben Abstraktem und Unsichtbarem eine Gestalt. Wie in wissenschaftlichen Abhandlungen ist hier das Denken am Werk. Hier wird formuliert, systematisiert, klassifiziert und verworfen. Bei allem Streben nach Objektivität und Allgemeingültigkeit sind diese Ordnungsmuster nicht unumstößlich, als Ergebnisse zahlreicher Vorannahmen und Produkte ihrer historischen und sozialen Bedingungen sogar umstritten. Wissen ist nicht beliebig, aber im Wandel und es gibt zahlreiche Betrachtungswinkel.
Aus dem 18. Jahrhundert ist uns die überraschend spielerische „Chronografische Karte“ überliefert. Dem mühseligen Studium einer Vielzahl historischer Abhandlungen stellte der Franzose Jacques Barbeu-Dubourg (1709–79) einen sinnlichen und vorfilmischen Apparat zur Seite. Mittels Kurbeln konnte die damalige Version der Menschheitsgeschichte, die 6.500 Jahre seit Adam und Eva umfasste, am Stück betrachtet werden. Der 16 Meter lange Zeitstrahl mit ausgeklügelten Piktogrammen erlaubte es historisch parallele Entwicklungen zu erkennen. Für die Kunsthistorikerin Astrid Schmidt-Burkhardt ist diese frühe Lernmaschine eine beachtliche Meisterleistung des bildenden und interaktiven Sehens, der unterhaltsamen, ja fröhlichen Wissenschaft.
Sehen und Erkennen, Kunst und Wissenschaft sind seit ihren Anfängen verbunden und können sich gegenseitig im Wechselspiel befruchten. Kunst bietet Entfaltungsspielräume für Visionen und Spekulationen. Manche von ihnen wurden sogar Wirklichkeit. Zeitgemäß oder revolutionär war Kunst stets, wenn sie das jeweils aktuelle Weltwissen ins Bild fassen konnte. Kategorien, Bilder und Methoden der Wissenschaft sind selbst immer auch Abbild des aktuellen Weltverständnisses und als solche Gegenstand der künstlerischen Inspiration und Kritik.
Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung haben mediale und wissenschaftliche Fortschritte eine rasante Dynamik des Wissens entfaltet. Noch nie waren Informationen so niedrigschwellig zugänglich wie heute. Archive und Museen öffnen sich ins Netz und können unabhängig von Ort und Zeit durchforscht werden. Sie werden ergänzt durch neue digitale Wissensplattformen und Methoden zur globalen und kollektiven Datensammlung. Dabei vervielfältigen sich die Betrachtungswinkel jenseits westlicher und moderner Hegemonien. Bisher Unterdrücktes und Abgewertetes kann sichtbar werden. Manche sehen jedoch, angesichts des Missverhältnisses von verfügbaren Informationen und menschlicher Aufnahmekapazitäten, von wissenschaftlichem Fortschritt und kognitiver Trägheit, bereits ein neues Mittelalter heraufziehen. Angesichts der Konjunktur „alternativer“ und „gefühlter“ Fakten, haarsträubender Geschichts- und Wirklichkeitsleugnung sowie Verschwörungstheorien mag das naheliegen.
Kann uns die Kunst Orientierung im Überfluss und Widerstreit der Informationen geben? Hat sie Methoden, falsche Gewissheiten zu hinterfragen und Neues wie Zukunftweisendes zu erkennen? Kann sie uns helfen, den gesamten Überblick und die vernetzten Abhängigkeiten der Bedingungen unserer Existenz – kurz: Das große Tableau – zu sehen?